Wie ist Deutschlands Handelsbilanzüberschuss zu verstehen: Nutzen sie den schwachen Euro aus?

Von Marcel Fratzscher, Präsident des Think Tank DIW Berlin und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin

Nun, da Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss den Rekordwert von 270 Milliarden Euro (285 Milliarden Dollar) oder fast 8,7% des BIP erreicht hat, hat sich die anhaltende Debatte über das deutsche Wirtschaftsmodell verstärkt. Die Politiker der Eurozone und die Regierung von Donald Trump in den Vereinigten Staaten schieben sich gegenseitig die Schuld für das wirtschaftliche Ungleichgewicht zu und alle gemeinsam geben dem Euro die Schuld.

Viele Deutsche sehen die jüngste Welle der Kritik als Zeichen dafür, dass andere nur neidisch auf den Erfolg ihres Landes sind. Sie haben wütend Argumente zurückgewiesen, dass Deutschland versucht hat, sich einen unfairen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Deutschland, so weisen sie darauf hin, betreibt weder Preisdumping noch direkte Exportförderung, und seine führenden Politiker zielen nicht auf den Euro ab.

Ganz im Gegenteil: Vor der Einführung der gemeinsamen Währung hatte Deutschland jahrzehntelang eine starke D-Mark-Politik verfolgt, weil es die heimischen Exporteure dazu ermutigen wollte, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation zu erhalten, anstatt sich auf den Wechselkurs zu verlassen. Das war das zentrale Merkmal des deutschen Wirtschaftsmodells nach dem Zweiten Weltkrieg und der Hauptgrund dafür, dass ihr langes Wirtschaftswunder aufrechterhalten werden konnte.

Die Kritik am deutschen Handelsüberschuss leidet an drei Trugschlüssen. Zunächst einmal scheinen viele der Kritiker zu glauben, dass die deutsche Handelsbilanz systematisch mit dem Wechselkurs manipuliert werden kann. Doch aufgrund der Integration globaler Wertschöpfungsketten umfassen die industriellen Exporte heute viele importierte Inputs. Das bedeutet, dass die Auswirkungen von Wechselkursbewegungen auf die Inlandspreise und die Handelsbilanz im Laufe der Zeit erheblich zurückgegangen sind.

Tatsächlich hat sich der bilaterale Handelsbilanzüberschuss Deutschlands neben den USA kaum verändert, trotz erheblicher Schwankungen des Euro-Dollar-Wechselkurses. Dieser betrug 2011 bis zu 1:1,60€ und zuletzt nur noch 1:1,04€. Deutschland verdankt seinen Exporterfolg nicht der Währungsmanipulation, sondern seiner starken Marktposition und der Preissetzungsmacht seiner hochspezialisierten und überragenden Hersteller.

Ein zweiter Trugschluss ist der Glaube, dass Politiker und Zentralbanken tatsächlich Wechselkurse festlegen können. In den meisten modernen Volkswirtschaften kann der Wechselkurs nicht einfach verordnet werden. Er wird vielmehr endogen durch die zugrundeliegende Realwirtschaft und den Zustand des Finanzsystems bestimmt. Die Devisenmärkte sind zu tief, als dass direkte Interventionen das Risiko wert wären, wie die Schweizerische Nationalbank vor einigen Jahren feststellte, als sie versuchte, die Aufwertung des Frankens einzudämmen. Das US-Finanzministerium hat die Devisenmarktinterventionen in den 1990-er Jahren aufgegeben und die Europäische Zentralbank hat nur einmal versucht zu intervenieren, und auch nur sehr kurz im Jahr 2000.

Ein dritter Trugschluss – dem man auf deutscher Seite in der Debatte oft begegnet – ist die Annahme, dass die Leistungsbilanz eines Landes die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte widerspiegelt. In Wirklichkeit wird die Außenbilanz eines Landes durch seine Präferenzen und seine intertemporalen Spar- und Investitionsentscheidungen bestimmt. Fundamentale Faktoren wie die demographische Entwicklung allein machen wahrscheinlich nur etwa drei Prozentpunkte – oder ein Drittel – des deutschen Leistungsbilanzüberschusses aus.

Wie diese drei Trugschlüsse zeigen, sollte es in der Debatte über den deutschen Außenhandelsüberschuss nicht um den Euro-Wechselkurs oder deutsche Exporte gehen. Der Euro ist nicht zu schwach und die deutschen Exporte sind nicht zu hoch. Das Problem ist vielmehr, dass die Importe Deutschlands aufgrund des großen Investitionsgefälles zu gering sind.

Deutschland hat eine der niedrigsten öffentlichen Investitionsraten in der industrialisierten Welt. Die Kommunen, die für die Hälfte aller öffentlichen Investitionen verantwortlich sind, haben derzeit nicht realisierte Investitionsprojekte im Wert von 136 Milliarden Euro oder 4,5% des BIP. Allein die Schulgebäude in Deutschland benötigen weitere 35 Milliarden Euro für Reparaturen. Unterdessen sind die privaten Investitionen im alternden deutschen Grundkapital durch den Wunsch vieler deutscher Unternehmen geschwächt worden, im Ausland zu investieren.